Der Coronavirus zwingt uns in den Stillstand. Lassen Sie mich erklären warum es gut ist, wenn wir mal die Kontrolle abgeben müssen und warum das die Vorfreude auf die nächste Reise besonders steigern kann.
Ich bin jemand der durchaus Warten kann, zum Beispiel beim Reisen. Eine Freundin fragte mich ob ich also gerade jetzt, in der Coronakrise, eine gute Zeit habe?
Meine Antwort dazu lautet – das träfe wohl zu, wenn ich mir das Warten selbst ausgesucht hätte. Aber die behördlich angeordneten Ausgangsbeschränkungen, das Versammlungs- und Reiseverbot verändern das Wesen des Wartens für mich massiv: Ich empfinde es als eine existenziellere Komponente. Damit verändert sich auch die Qualität der Vorfreude, die ich normalerweise schätze. Ich musste in der vergangenen Woche eine Reise nach München absagen. Die möchte ich auf alle Fälle nachholen, aber derzeit weiß ich ja nicht mal, wann das sein wird – ob in Tagen, Wochen oder vielleicht erst Monaten?
Niemand weiß ja im Moment, wann die Corona-Zwangspause vorbei sein wird. Meiner Meinung nach trägt bestimmt vor allem die Ungewissheit dazu bei, vielen Menschen das Warten auf die sogenannte Normalität so schwer zu machen.
Das Problem ist aber auch dass wir das Warten nicht aus eigener Kraft verkürzen können. Eines ist schon mal ganz klar – die meisten von uns leben doch mit einer Art Planungs- Fetisch. Wir glauben, alles unter Kontrolle zu haben und stets selbst entscheiden zu können, was wir wann und wie tun oder konsumieren. Nun müssen wir leider erfahren dass alle Planung nichts bringt – wir erleben das Gegenteil. Andere schreiben jetzt die Pläne für uns. Wir müssen nun auf viel mehr warten, als uns lieb ist.
Betrachten wir doch einfach mal unseren Kontrollwahn, dann ist Warten so etwas wie die Kränkung des modernen Menschen. Und Covid-19, das Coronavirus, ist entsprechend ein massiver Tiefschlag für unser Ego, fast schon ein Affront.
Doch Sie können auch versuchen, die guten Seiten zu sehen. Warten ist auch ein Zustand, der nach seiner eigenen Abschaffung strebt. Wer wartet, der erwartet etwas.
Darum ist es jetzt auch gerade sehr wichtig, mit schönen Perspektiven zu leben, also zum Beispiel im grauen Januar an den sonnigen Sommerurlaub in Frankreich zu denken… Oder sich zum Beispiel in diesen Zeiten von Social Distancing eine schöne Grillparty mit Freunden auszumalen.
Dadurch gewinnt dann auch das, worauf wir warten, ungeheuer an Wert, wenn wir nur lange genug darauf warten. Und Vorfreude hält schliesslich viel länger als die Freude der Erfüllung, die schneller wieder verfliegt. Wenn wir uns freuen, dann schütten wir Dopamin aus, einen vielfältigen Botenstoff, der unter anderem der Motivation dient. Wie groß der Dopamin-Kick ist, ist natürlich wiederum eine Frage der ganz individuellen Gewöhnung.
Dabei sollten wir auch natürlich bedenken, dass sich unser Glücksempfinden massiv abnutzt, wenn wir dauernd aufregende Reisen machen oder ständig in schicken Restaurants essen gehen. Deshalb hat diese uns aufgezwungene Enthaltsamkeit auch etwas Gutes, denn ich verstehe die Situation gerade auch als Aufschub von Bedürfnissen. Wir vermissen natürlich das Leben, wie wir es aus der Zeit vor der Coronakrise kannten. Aber mehr noch als ein Erwarten, dass dies wieder eintritt, ist da wohl eine Sehnsucht.
Wir sollten uns alle ein bisschen lockerer machen – frei nach dem Motto: Abwarten und Tee trinken – und nach der Pandemie dann wieder zurück auf Start einstellen, das täte uns sicher gut.
Aber wir dürfen dabei natürlich nicht vergessen, dass viele Menschen nun existenzielle Ängste haben und nicht jeder die Coronakrise in einer privilegierten sozioökonomischen Situation verbringt.
Es gibt sicher Probleme mit häuslicher Gewalt, Obdachlose, Familien in winzigen Wohnungen und Kleinunternehmer die eine grosse Angst vor der Pleite haben. Aber abgesehen von solch gravierenden Problemen gibt es natürlich auch Menschen, die die Coronakrise für sich nutzen könnten. Es lohnt sich, das Warten auf die Zeit nach dem Lock-down bewusst zu gestalten.
Damit meine ich dass wir bei allem Verständnis für die Sorgen mal versuchen könnten, für einen Augenblick das Ziel aus den Augen zu verlieren, also nicht an die Zeit nach Corona zu denken, sondern sich der Situation einfach hinzugeben.
Wir haben doch alle einige Dinge, die wir irgendwie nie schaffen. Da ist nie die Zeit oder Musse etwas Herausforderndes über einen längeren Zeitraum zu tun. Ich persönlich nehme mir schon lange vor, regelmäßig zu meditieren. Jetzt habe ich plötzlich die Zeit dazu.
Natürlich akzeptiere ich, dass berufstätige Eltern im Moment so wenig Zeit wie nie haben, weil geschlossene Schulen und Kitas den Home-office Alltag für sie zur grossen Herausforderung machen. Da rate ich: Um Zeit zu gewinnen, finde ich Let-it-be-Listen praktisch, die sind das genaue Gegenteil von To-do-Listen.
Eben heute mal nicht aufräumen oder nicht mehrmals täglich die E-Mails checken. Aber wir bekommen gerade genügend Ansagen, was wir alles lassen sollen. Machen Sie sich also lieber eine Vorfreude-Liste! Darauf gehören all die Träume für die Zeit nach der Pandemie. Was das sein könnte, ist natürlich ganz individuell Ihnen überlassen.
Ich bin fest davon überzeugt – Warten ist eine verlernte Kunst, den die Fähigkeit zum Staunen ist uns abhandengekommen. Zum Beispiel sind im 19. Jahrhundert Menschen, die mit dem Zug verreisen wollten, schon Stunden vor der Abfahrt zum Bahnhof gegangen und haben das geschäftige Treiben an den Gleisen bestaunt. Sie haben nicht darauf gewartet, dass es endlich losgeht, sondern diese Zeit sinnvoll verbracht. Sie haben sich dem Warten hingegeben. Das können leider in unserer Gesellschaft heutzutage die wenigsten Menschen.
Wie gut wir gerüstet sind, die Coronakrise mental zu überstehen, hängt viel davon ab uns im Moment in Geduld zu üben. Geduld ist die Fähigkeit, warten zu können – und zwar gelassen, ohne dabei einen hochroten Kopf zu bekommen. Vielleicht ist der Lock-down erträglicher, wenn wir jetzt nicht hetzen, den Lauf der Zeit nicht beschleunigen wollen. Wir können die Zukunft nicht ins Hier und Jetzt ziehen – also ist es besser ganz gelassen abzuwarten, voller Geduld und von besseren Zeiten träumend.